Ich erinnere mich noch an ein Wochenende im Dezember 2006, da fand im bayrischen Erlangen ein Festival, anlässlich eines 40-jährigen Geburtstages, mit dem Namen
Tonwellen-Konferenz statt. Schon damals gab es im Vorfeld sehr viel positive Resonanz bezüglich der geplanten Auftritte. Später stellte sich dann heraus, dass nicht nur das gebotene Programm überzeugen konnte, sondern ebenfalls die Randbedingungen, wie Organisation, Atmosphäre usw. Das Konzept konnte man kurz und knapp mit den Worten Qualität statt Quantität beschreiben. Die gesamten positiven Rückmeldungen haben dann wohl den Veranstalter
Andreas „Stöfi“ Stöferle dazu genötigt, fast 3 Jahre später mit einer Fortsetzung an den damaligen Erfolg anzuknüpfen.
Und wieder gab es jede Menge Vorschusslorbeeren bezüglich der Projekt-/Bandauswahl. Aber wen wundert das auch, wenn Namen wie
Minamata, Hijokaidan, Irikarah, Flutwacht,
Phelios & C.Stritzel, Mezire, Atrox und
William Bennett fallen. Den Veranstaltungsort verlegte man in den ländlichen Bereich des nordrheinwestfälischen Burscheids, das mir bis dato nur aus dem Verkehrsfunk bekannt war. Das Megaphon, so heißt die Räumlichkeit im Stadtteil Sträßchen, ist optisch eine Kombination aus Jugendzentrum mit angeschlossenem Club. Im unteren Bereich befindet sich eine Kneipe mit Sitzmöglichkeiten und separatem Billardraum, der obere Bereich ist ein ausgebauter Dachboden, in dem der Discobetrieb mit Tanzfläche, Thekenanbindung und Auftrittmöglichkeiten stattfindet bzw. stattfinden kann. Und genau in dieser dreieckigen Konstruktion durften die Künstler das teilweise weit angereiste Publikum im Rahmen des Festivals Tonwellen 2 mit sehr unkonventionellen Klängen beschallen.
Gleich zu Anfang begegnete man Jugendlichen auf dem Gelände, die nicht den Eindruck erweckten, zur Zielgruppe zu gehören. Es stellte sich heraus, dass es am Freitag noch eine weitere Veranstaltung auf dem Gelände gab und das
Megaphon den unteren Bereich, einschließlich der Toiletten, für beide Gruppen zur Verfügung stellte. Da ja allgemein bekannt ist, dass sich Menschen mit ausgefallenem Musikgeschmack etwas anders kleiden, als der von Vorabendserien und Musiksendern propagierte Dresscode, wunderte sich wohl auch niemand über die augenscheinliche Bemusterung der Jugendlichen. Aus der Ferne konnte man noch Tuscheln und fragende Blicken registrieren, wo man hingegen aus der Nähe nur noch abgesenkte Häupter und Stille vernahm. Sehr unterhaltsam.
Glücklicherweise führten private Umstände dazu, dass wir auf der Anreise einen sehr unangenehmen Stau umfahren durften und so rechtzeitig zum ersten Auftritt erscheinen konnten. Der Auftritt von
Mezire begeisterte, wie so oft, gleich zu Anfang. Die Mischung aus
Power Electronics, Dark Electro, Industrial und Noise stellte zwar ein gutes Konzept da, gehörte für mich aber aufgrund des Zuspruches unter den Gästen nicht an den Anfang. Hier hat man zumindest einen der Headliner des ersten Abends effektiv zum Anheizen genutzt. So gesehen kein schlechtes Konzept! Interessant ist die Tatsache, dass die Klänge und der Gesang von
Mezire doch recht aggressiv rüberkommen, dennoch wird auf der Bühne mehr gegrinst und gelächelt als bei allen anderen Bands zusammen. Selbst Anspielungen auf den Tod von
Michael Jackson wurden durch einen kurzen Griff in den Schritt und ein anschließendes Beerdigungszeichen nicht ausgelassen. Ich möchte jetzt kein Öl ins Feuer gießen, aber ein
Staubedingtes Verpassen des Auftrittes hätte mich doch stark verärgert.
Etwas ruhiger aber nicht harmonischer ging es mit dem Einmann-Projekt Flutwacht weiter. Ein Soundtüftler, der viele Bestandteile eines Schrottplatzes in seine Performance und Klänge einfließen lässt bzw. ließ. Und so wunderte es wohl niemanden mehr, dass man seine ohnehin schon durch hohe Temperaturen und vorhandene Schwüle klebrige Haut durch eingesetzte Trennwerkzeuge noch ein wenig paniert bekam. Ein audiovisueller und analoger Hochgenuss!
Das nachfolgende Projekt Satori erzeugte wesentlich harmonischere Klänge, die man wohl eher der Kategorie
Dark Ambient zuweisen kann. Da mir die Performance etwas zu konzentriert wirkte, entschloss ich mich, die schönen Klänge etwas aus der Ferne zu genießen. Dummerweise hab ich es leider vergessen, mir ein Andenken im Rahmen eines Tonträgers mitzunehmen. Diese Gelegenheit wird sich aber sicherlich noch irgendwann ergeben.
Der druckvollste Auftritt des ersten Abends kam ganz klar von Atrox (wie eigentlich immer). Man muss sich schon wirklich die Frage stellen, wie
Stöfi und Jörg das hinbekommen. Vielleicht gibt es einen Geheimzusatz in der Sektpulle, die grundsätzlich bei jedem Auftritt geleert wird. Oder es ist das besondere Analog-Equipment, was kaum noch bei aktuellen Künstlern live zum Einsatz kommt. Die Bühnenperformance fand in alter Tradition statt, viel Nebel, viel Laser und kaum eine Möglichkeit etwas anderes auf der Bühne zu erkennen. Vielleicht gab es Hintergrundvideos, das werden wir aber wohl nie anhand von Beweisfotos erfahren.
Die hohen Erwartungen an William Bennett wurden leider ein wenig enttäuscht. Jeder hatte zumindest ein bisschen
Whitehouse erwartet. Stattdessen gab es zwar Sound, der den letzten
Whitehouse Alben ähnelte, aber die gewünschte Live-Performance blieb aus. Stattdessen betrat ein weibliches Wesen gegen Ende die Bühne und präsentierte Textpassagen, die kaum zu verstehen waren. Aber offensichtlich schien sie der Sound oder Text ein wenig zu erregen. Entsprechende Gestiken ließen diesen Schluss zu. Im Nachhinein stellten sich viele Gäste die Frage, ob dieses Geschöpf mit dem jugendlichen Aussehen nicht der Gruppe zuzuordnen ist, die bereits, aufgrund des Durchschreitens der 23:00 Uhr Grenze, das Gelände altersbedingt verlassen musste.
Nach einer kurzen Unterbrechung bestehend aus 400 km Autofahrt, Übernachtung und Nahrungsaufnahme ging es am Samstag pünktlich mit dem
Dark Ambient Projekt Phelios & C.Stritzel weiter. Diese Konstellation durfte ich bereits Ende 2007 in der Wuppertaler Schwebebahn genießen. Die positiven Randbedingungen führten aber dazu, dass man sich kaum auf die Musiker konzentrierte. Dies konnte ich bei der Darbietung in Burscheid endlich nachholen. Die Arbeitsweise von
Phelios konnte man visuell durch das eingesetzte Equipment nicht beurteilen, dafür aber die
Theremin-Bedienung von C.Stritzel. Die Handbewegungen an diesem berührungslosen Instrument standen im analogen Zusammenhang mit der Klangerzeugung. Sehr schön anzuschauen. Ihre harmonischen
Dark Ambient-Flächen haben viele Gäste in ihren Bann gezogen. Vereinzelt konnte ich beobachten, wie sich Personen anschließend persönlich bei den Künstlern für den tollen Auftritt bedankt haben.
Mit experimentellen Klängen und Geräuschen trat N.Strahl.N. danach ein schweres Erbe an. Seine durchstrukturierte Aufführung ließ allerdings keine Wünsche offen. Recht ruhig und ausgefallen kann man das Gesamtwerk beschreiben. Metalltreibstoffkanister und -platten dienten der Klangerzeugung und sorgten so für entsprechende Blicke Richtung Bühne.
Leider mussten Code243 für den Abend kurzfristig absagen, dafür wurde das plötzlich zur Verfügung stehende Zeitfenster auf die folgende Musikprojekte aufgeteilt. Davon profitierten unter anderem
Irikarah und somit auch die Besucher. Irikarah verwendete ausschließlich Analog-Equipment für den Auftritt und erzeugte einen Sound, der in der Szene leider viel zu wenig zu hören ist. Entsprechender Beifall gab ihm die Bestätigung für sein Sound-Engagement.
Einer der Höhepunkte des Festivals war das französische Projekt Minamata, dass bereits seit den 80ern aktiv ist, wenn auch mit Unterbrechungen und mit weiteren Konzepten unter anderem Namen. Im Vorfeld wurde erwähnt, dass alle Gäste den Raum verlassen müssen und erst zu einem späteren Zeitpunkt wieder direkt zum Konzertbeginn betreten dürfen. Das sorgte natürlich für weitere Spannung. Ein wenig aufgeregt fanden sich die Besucher dann am unteren Treppenansatz ein und warteten brav auf die Freigabe des Raumes. Oben gab es dann nach Betreten einen weiß gekleideten und maskierten Künstler mit verschränkten Armen zu bewundern, der von weißen Elementen eingeschlossen war. Zu vernehmen gab es zu diesem Zeitpunkt nur sehr, sehr tiefe Atmungsgeräusche, die intensiv unter die Haut gingen. Mit dem Starten der Industrial-Soundcollagen setzte eine Videoprojektion ein, in der sich der Künstler zentral bewegte. Es ist fast unbeschreiblich was dort ablief. Normalweise stehe ich so gut wie nie genau mittig vor der Bühne. Aber diesmal fesselte mich diese Darbietung so, dass ich nicht in der Lage war, meinen Standpunkt zu verändern. Wie angewurzelt und gelähmt wurde ich dann wohl ein Teil dieser großartigen Präsentation.
Was nach Minamata kam, hatte einen extremen Polarisationsgrad. Es gab keine Graustufen zwischen Verzweiflung und unendlicher Begeisterung bei den Besuchern. Das führte letztendlich dazu, dass
Hijokaidan nicht vor allen Besuchern ihre Kunst zum Ausdruck bringen konnten. Was gab es denn zu bewundern? Eine kreischende Frau, die ununterbrochen immer und immer die gleichen Laute ins Mikrofon brüllte, einen Gitarristen, der irgendetwas auf seiner Gitarren spielte, was nicht im geringsten etwas mit Melodie und Konservatorium zu tun hatte. Das Ganze wurde noch von einem wild gewordenen und nicht gerade unbekannten Schlagzeuger untermalt.
Manni Neumaier, bekannt durch die Krautrock-Band Guru Guru, hat dem jungen Publikum noch einmal gezeigt, was man aus so ein paar Trommeln und Becken so alles rausholen kann. Dieses Trio schaukelte sich mit ihrem Einsatz auf der Bühne immer weiter auf, so dass aus dem Trio plötzlich ein Quartett wurde. Jörg (Atrox,
Antracot) stand plötzlich mit seinem elektronischen Equipment auf der Bühne und mischte kräftig mit. Währenddessen versuchte der Gitarrist ständig durch Rempelbewegungen den hochhausgroßen Verstärker auf die Seite zu legen. Damit nicht genug, räumte er die Hälfte des von Jörg aufgebauten Equipments mit seinem ausgestreckten Arm ab, um auf dem Tisch zu springen. Die Panik in Jörgs Augen, gepaart mit dezenten Abwehrbewegungen, konnte ihn von seinem Vorhaben jedoch nicht abbringen. Destruktion als Kunstform bezeichnet man so etwas wahrscheinlich in Fachkreisen. Dass es aber Leute gibt, die sich für so etwas noch begeistern, macht sicherlich jedem Therapeuten Angst. Leider wird es wohl nicht mehr so schnell die Möglichkeit geben, einen weiteren Auftritt von
Hijokaidan zu genießen, deshalb werde ich diesen jetzt besonders in Erinnerung behalten.
Ob Stöfi & Co noch eine Fortsetzung der Tonwellenreihe planen, steht in den Sternen. Ich kann es nur hoffen, denn solch qualitativ hochwertigen Festivals und dann noch in der Nähe sind wirklich sehr selten. In diesem Sinne noch einmal ein ganz herzliches Dankeschön für das schöne Wochenende in familiärer Atmosphäre.
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